Blick hinter die Kulissen des bedeutenden US-amerikanischen Schadensersatzprozesses. Klaus Scheidsteger zählt weltweit zu den wenigen Journalisten, die hautnah die Ereignisse verfolgen. Seine Film-Doku Thank You For Calling (2016) machte Furore und ist nach wie vor brandaktuell.

(Foto: Eine von vielen Sonderveranstaltungen im Festivalkino Lugano (Schweiz), Sommer 2018 – von links nach rechts: Myriam Fasani, Tierärztin im Tessin, Klaus Scheidsteger, Dr. George Carlo, „Hauptdarsteller“ TY4C, Dr. Petra Wiechel, Swiss Mountain Clinic. – Auswahl-Dokus zum Film: TY4C in Deutschland >>> / TY4C in Österreich >>>)

 

Eine endlose Geschichte

Oder: Warum Thank You For Calling weiterhin aktuell ist

von Klaus Scheidsteger

Der von der Mobilfunkindustrie inszenierte Hype um die neue Mobilfunkgeneration 5G hat erfreulicherweise auch zu einer neuen, engagierten Protestbewegung geführt. Immer mehr Menschen erkennen z.B. durch eigene Recherche, durch persönliche Betroffenheit, die Sorge um die eigene oder die Gesundheit ihrer Kinder und Enkelkinder, dass hier was faul ist im Staate…

Als Filmemacher, der sich seit 2004 mit dem Phänomen der gekauften Wissenschaft, des Industrie-Lobbyismus und der bewusst inszenierten Verbraucherfehlinformation im Mobilfunkthema auseinandersetzt, freue ich mich natürlich, dass viele neue Bürgerinitiativen, Verbraucherschutzgruppen, Schulen und Einzelkämpferinnen meinen Film und meine filmische Arbeit als Mittel zur Aufklärung über Missstände und zur Bewusstseinserweiterung im EMF Thema einsetzen. So geschieht es mit Thank You For Calling (2016).

Zur Wirkung des Films

In mittlerweile unzähligen Sonderveranstaltungen, in Kinos, Gemeindesälen, Schulen und Volkshochschulen konnte ich teilweise mit vielen hundert Besuchern nach der Vorführung die Inhalte vertiefen. Etliche Gruppen und Bürger-Initiativen haben bei mir eine Vorführlizenz erworben, um eigenaktiv Filmvorführungen zu organisieren.

Mein persönlicher Höhepunkt bei all diesen Aktionen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Frankreich bot eine Vorführung vor 1100 interessierten Menschen, im Rahmen der Gesundheitstage der GGB (Gesellschaft für Gesundheitsberatung) in der Stadthalle in Lahnstein.

Die Standing Ovation der über tausend Menschen bewegt mich noch heute. Und mitten im Applaus riefen mir die GGB-Verantwortlichen zu ob ich nicht auch ein Buch zum Film hätte. Ich hatte und seit diesem Tag im Oktober 2017 gab es nun endlich auch einen mutigen Verlagspartner, der mein Buch Thank You For Calling seit Frühjahr 2018 nun schon in der zweiten Auflage herausbringt. Der zur GGB gehörige EMU-Verlag.

Endlos ist mittlerweile die Liste der engagierten Menschen die versuchen, den Film als eine Art Öffner zum kritischen Bewusstsein herzunehmen und ganz erfreulich ist auch das Presseecho während meiner Kinotourneen in Österreich und Deutschland 2016 zu bewerten. Der Film hatte Einzug gehalten in den Feuilletons, der Kulturberichterstattung (hier nachzulesen: www.ty4c.com), selbst in eher konservativen Tageszeitungen. TY4C wurde u.a. als „Tipp der Woche“ angepriesen und musste sich dennoch mit bösartig vorgetragenen Gerüchten oder Bewertungen aus im Mobilfunk bekannten Mietmaul-Vertretern konfrontiert sehen.

Kinobesitzer wurden bedrängt, Schulleiter mit fake news auf einen „gar nicht vorhandenen Prozess gegen die gesamte Mobilfunkindustrie, den der Scheidsteger nur erfunden habe“, zu beeinflussen versucht. Ein für seine Industrienähe bekannter Biologe aus Bremen war sich gar nicht zu schade im Auftrag der österreichischen Mobilfunklobby in Wien einen Antifilm zu drehen. Für die Industriefreunde bin ich unbequem. Es gibt halt kein Problem und die Verbraucher sind ausreichend durch die Grenzwerte geschützt. Punkt aus!

TY4C: Wo stehen wir aktuell?

TY4C endet mit dem Hinweis, die Industrie-Anwälte seien in die Berufung gegangen.

Die gute Nachricht, dieser Stand ist immer noch aktuell.

Die schlechte: durch die Corona-Krise ist der Terminplan, der ein neuerliches „Hearing der Wissenschaftler“ für die zweite Junihälfte des Jahres 2020 vorsah, zunächst einmal auf unbestimmte Zeit verschoben …

Nun haben mich immer mehr Menschen gebeten, den Stand der Dinge mitzuteilen und die Chronologie der Ereignisse hinter den Kulissen des bedeutendsten Schadenersatzprozesses aller Zeiten aufzubereiten. Ich will dies gerne – auch anhand von vertraulichen Prozessunterlagen, die mir zugespielt wurden – tun.

Es wird dem Leser dabei schnell einleuchten, es handelt sich um eine endlose Geschichte der ewig gleichen Muster, ob big tabacco, big oil oder big data – um den optimalen Aktienkurs zu erzielen sind alle Mittel erlaubt.

Der lange Weg: Zum Stand des Prozesses

Dreizehn Jahre nach der ersten Klageeinreichung eines Gehirntumor-Patienten im Jahre 2001, waren bis hin zum wegweisenden Urteil des Richters Frederick H. Weinberg an der Obersten US-Zivilkammer, dem Superior Court For the District of Columbia (Washington D.C.) am 8.August 2014 vergangen. 13 Jahre in denen die Anwälte  der Mobilfunkindustrie, getragen auf einer beispiellosen Erfolgswelle der digitalen Technik und ausgestattet mit allen finanziellen Möglichkeiten der big player, mit allen Mitteln versuchten, die Prozesse erst gar nicht stattfinden zu lassen, oder sie zumindest auf einige wenige Hersteller pro Kläger zu reduzieren.

Es ist dem langen Atem einiger mutiger Anwälte zu verdanken, dass es bisher überhaupt weiterging und eigentlich nur Teilerfolge der Kläger zu vermelden waren.

So wurden zum Beispiel dreizehn ähnlich geartete, sogenannte Gehirntumorfälle zusammengefasst, alle Kläger-Anwälte unter Federführung der Ersteinreicher, der Kanzlei Morganroth&Morganroth aus Detroit als Team anerkannt, die gesamte Mobilfunkindustrie, organisiert über den Industrieverband „CTIA-The Wireless Association“ als Beklagte definiert und schließlich die Wissenschaftler der Kläger als solide und ernstzunehmende Forscher anerkannt.

Dabei hatte das Gericht primär die Erkenntnisse und Forschungsarbeiten der Europäer, die beiden Wiener Medizin Professoren Michael Kundi und Wilhelm Mosgoeller, sowie dem in Bratislava forschenden Russen Igor Belyaev als ausreichend bewertet, um einen möglichen kausalen Zusammenhang zwischen Krebs und Handynutzung anzuerkennen.

Dabei war es zivilrechtlich relevant, wenn z.B. Professor Kundi vor Gericht ausführte:

“Es ist wahrscheinlicher als nicht, dass durch Handytelefonieren Krebs ausgelöst werden kann.“

In seiner Urteilsbegründung vom 8.8.2014 merkte Richter Weisberg an:

“If there is even a reasonable possibility that cell phone radiation is carcinogenic, the time for action in the public health and regulatory sectors is upon us. Even though the financial and social cost of restricting such devices would be significant, those costs pale in comparison to the cost in human lives from doing nothing, only to discover thirty or forty years from now that the early signs were pointing in the right direction.”

„Wenn es auch nur eine angemessene Wahrscheinlichkeit gibt, dass die Strahlung von Mobiltelefonen krebserregend ist, dann ist es an der Zeit, im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Regulierung zu handeln. Auch wenn die finanziellen und sozialen Kosten einer Beschränkung solcher Geräte beträchtlich wären, verblassen diese Kosten im Vergleich zu den Kosten, die ein Nichtstun in Form von Menschenleben verursacht, nur um in dreißig oder vierzig Jahren festzustellen, dass die ersten Anzeichen in die richtige Richtung verwiesen haben.“

Gleichsam eröffnete der Richter in seinem umfangreichen Statement, dass die Experten der Anklage als Wissenschaftler, die „generell akzeptierte“ Methoden für ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse benutzen, aller Wahrscheinlichkeit nach einem Standard namens „Daubert“ nicht standhalten würden. Dieser Standard wird in aller Regel im Strafrecht zur Anwendung gebracht und der Richter selbst führte an, er zwinge den Richtern quasi auf zu „Amateur Wissenschaftlern“ zu werden und deutete somit die offenkundige Überforderung der Gerichte bei Anwendung dieses Standards an.

Andererseits öffnete er den Industrie-Anwälten auch ein Türchen und in der Tat versuchen diese seither den Standard vor der Zivilkammer anzuheben und sich mit den Gehirntumorfällen dem Daubert-Hearing zu nähern …

Zusammenfassend kann ich als Prozessbeobachter dies sagen:  wesentlich geht es den vom Industrieverband und den größten Playern der Branche engagierten renommiertesten US-amerikanischen Großkanzleien um folgende Strategie:

  • durch eigene Experten aus namhaften Universitäten und Krebsforschungsinstituten, etc. die Argumente der Kläger-Experten auszuhebeln – deren Erkenntnisse ad absurdum zu führen;
  • die nach 2014 neuen Ergebnisse aus der weltweiten Mobilfunkforschung als fehlerhaft zu diskreditieren (z.B. NTP-Studie);
  • die US-Kontrollorgane FDA und FCC eindeutig für die Seite der Industrie zu gewinnen;
  • das Hearing der Wissenschaftler zu wiederholen und den Standard der dann neuen Beweisführung auf ein dem Strafrecht angeglichenen Standard zu heben;
  • Zeit zu gewinnen;
  • Unsicherheit zu streuen.

Zentrale Punkte aus dem laufenden Verfahren

Dem Einspruch wurde stattgegeben. Seither laufen diverse juristische Prozedere; nun unter der Federführung einer Richterin, Anita Josey-Herring. Der bis dahin federführende Richter Weisberg war aus Altersgründen ausgeschieden.

Am 27.09. 2017 wurde auf Druck der Industrieanwälte eine „Subpoena“ (Zwangsmaßnahme, der sich nicht zu widersetzen ist) des Gerichts erlassen, wonach die involvierten Wissenschaftler der Klägerseite aufgefordert wurden, sämtlichen Schriftverkehr und Dokumente offenzulegen, unter anderem mit Bezug zu einem Film namens „Thank You For Calling“ , einem Herrn namens Klaus Scheidsteger, die Korrespondenz mit George Carlo, Devra Davis und deren Organisation Environmental Health Trust, der Bioinitiative Working Group, die Projekte ATHEM-2 und ATHEM-1 (wobei hier der sogenannte Wiener Skandal angesprochen wird) und dann noch, interessanterweise, alle Dokumente, die die Wissenschaftler vorzulegen gedenken in Bezug auf ein „Daubert hearing“ …

D.h. also, das Gericht ging bereits am 27.09.2017 davon aus, dass das nächste Hearing einem Daubert-Standard entspricht!!!

[Anlage 1]

Dann erließ die Richterin eine Zeitplan Verfügung, wonach alle Fristen für das Beweisverfahren festgelegt sind.

[Anlage 2]

Zwischen dem 22. November 2018 und dem 05.August 2019 mussten die Experten beider Seiten ihr jeweiliges Beweismaterial einreichen und im Austausch untereinander die Studien, die als Beweismittel herangezogen werden, kommentieren. Ich hatte Gelegenheit diesen teilweise sehr umfangreichen Austausch einzusehen. Fast bekomme ich Mitleid mit der Richterin, die sich durch einen unendlichen Wust an Experten- Interpretationen von Studien, wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Fachbüchern und Kommentaren arbeiten muss.

Zusammenfassend kann ich folgendes festhalten: nach Meinung der Experten der Angeklagten enthalten auch die neu eingereichten Arbeiten der Kläger-Experten die bekannten Mängel, u.a. weil sie sich a) auf Studien berufen, die entweder nicht reproduziert wurden, oder deren Reproduktion scheiterte, b) irrelevant für die Fragestellung ob die Handystrahlung gesundheitliche Schäden hervorrufen könne, c) unglaubwürdig sind, weil sie nicht doppelblind getestet seien, bzw. keinem generell akzeptierten Exposition-System und der Überprüfung durch Dritte entsprechen.

Mit anderen Worten, die Experten sind auf dem von Lobbyisten vorgegebenen „Wargame-Kurs“, ganz wie im Film Thank You For Calling geschildert.

[siehe auch https://www.youtube.com/watch?v=HNMqgLQ_xDg ]

Strategie der Industrie

Nun soll ja auch die NTP-Studie, die im Ergebnis zeigte, Mobilfunkstrahlung kann zu Tumoren führen, sozusagen industriekonform reproduziert werden. Das Studiendesign wurde nach Auskunft von Fachleuten so konzipiert, dass die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, eben nichts zu finden. Stichwort reduzierte Fallzahl und damit reduzierte Schadensfälle.

Da hinein passt auch der folgende Sachverhalt. Zunächst eine Presseerklärung (vom 1.11.2018) des FDA Direktors Jeffrey Shuren zur NTP-Studie, die alles sagt:

„Wenn neue Studien oder Informationen verfügbar werden, führt die FDA gründliche Auswertungen der Daten, um unseren Informationsstand kontinuierlich zu überdenken. Wir überprüften die kürzlich abgeschlossenen Forschungsarbeiten, die von unseren Kollegen des Nationalen Toxikologie-Programms durchgeführt wurden (NTP), Teil des Nationalen Instituts für Umweltgesundheitswissenschaften innerhalb der National Institutes of Health, über Hochfrequenzenergie-Exposition. Nach Durchsicht der Studie stimmen wir jedoch nicht mit den Schlussfolgerungen ihres Abschlussberichts hinsichtlich „klarer Beweise” für krebserzeugende Aktivität bei Nagetieren, die Hochfrequenzenergie ausgesetzt sind, überein.“

[Anlage 3]

Dazu passt zudem, dass die FDA mit dem angeklagten Industrieverband CTIA einen Forschungskooperationsvertrag laufen hat und auch bei der eigenen, Industrie-finanzierten Forschung, natürlich nichts gefunden wurde, was den Verbrauchern schaden könnte.

„Die kooperative Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung (CRADA) der FDA mit der Cellular Communication & Internet Association (CTIA) hat zu Forschungsprojekten geführt, die sich auf zwei Themen fokussierten  – mechanistische Studien im Zusammenhang mit Genotoxizität und Expositions-Bewertungsstudien. Alle durch die CRADA finanzierten Studien sind abgeschlossen, und es wurde „kein Zusammenhang zwischen der Exposition bei hochfrequenter (RF) Strahlung von Mobiltelefonen und gesundheitsschädliche Auswirkungen gefunden.“

„FDA’s cooperative research and development agreement (CRADA) with the Cellular Communication & Internet Association (CTIA) has resulted in research projects focused on two topics- mechanistic studies related to genotoxicity and exposure assessment studies. All studies funded through the CRADA have been completed, and no association was found between exposure to radiofrequency (RF) radiation from cell phones and adverse health effects.

[Anlage 4]

So beruft sich dann auch die andere US-Zulassungsbehörde FCC auf die Erkenntnisse der FDA und gibt Entwarnung:

„Wie Jeffrey Shuren, Direktor des Center for Devices der Food and Drug Administration und Radiological Health, an die FCC schrieb: “Die bisher verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen keine gesundheitsschädliche Auswirkungen beim Menschen aufgrund von Expositionen an oder unter den derzeitigen Grenzwerten …” und „somit sind keine Änderungen an den derzeitigen Standards zum jetzigen Zeitpunkt gerechtfertigt”.

[Anlage 5]

Im Februar 2020 kam dann ein ganz neuer Studien-Report der FDA heraus. Ein zusammenfassender 113 Seiten starker Bericht, der generell auf folgende Zusammenfassung kommt:

„Auf der Grundlage der Studien, die in diesem Bericht ausführlich beschrieben werden, gibt es keine ausreichenden Belege für einen kausalen Zusammenhang zwischen RFR-Exposition und Tumorentstehung. Es fehlt eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung, ein Mangel an konsistenten Befunden oder Spezifität und ein Mangel an biologisch-mechanistischer Plausibilität.“

[Anlage 6]

Massive Interessenkonflikte

Dieser FDA-Report, zeitlich passend zu den bevorstehenden Gerichtsterminen und mit den üblichen Entwarnungen für Gesundheitsrisiken ausgestattet, ist übrigens explizit nicht von Direktor Jeffrey Shuren unterzeichnet.

Von ihm wurde ein erheblicher Interessenkonflikt bekannt.

[Anlage 7]

Danach ist seine Frau Allison Shuren als Anwältin Partnerin der Anwaltskanzlei Arnold & Porter ist. Diese Kanzlei wurde gegründet vom ehemaligen FCC-Vorstandsmitglied Paul A. Porter. Die Kanzlei hat allein durch den Mobilfunkanbieter AT&T und dessen intensiv betriebenen Firmenfusionen in Größenordnungen von 200 Milliarden US-Dollar mitgewirkt.

So wird Politik gemacht.

Was den neuerlichen Gerichtstermin in Washington D.C. anbelangt, so waren die Wissenschaftler  vor der Corona-Krise gebeten worden, sich für die zweite Junihälfte 2020 bereitzuhalten. Ein früherer Termin sei wegen „Überlastung des Gerichts“ nicht machbar.

Das war, wie gesagt, vor Corona …